Paradoxon des Glaubens
Das Paradoxon des Glaubens besteht darin, dass in ihm offenbar beides wurzelt. Einerseits kann er dem Individuum enorme Kraft und wahrhaftig frohe Botschaft sein; ein Wunder, weil er den Menschen aus der Ungewissheit führen kann, die in der Gewissheit seines Todes liegt. Ein Mensch vermag sein Krank- und Schwachsein anzunehmen, wenn er aus dem eine Kraft bezieht, die nicht aus ihm selbst kommen kann. Andererseits: Was individuell rettend ist, kann kollektiv das Mörderische gebären. Denn dieses Ungreifbare, Inationale des Glaubens kann dem Bösen und der Gewalt als unangreifbare Legitimation dienen, die höhere Begründung für ein niederes Handeln sein, welches sich der Ratio entzieht und zur Hemmungslosigkeit führt. Wer sich auf Gott beruft in seinem Anspruch auf Wahrheit, der stellt sich von jeder irdischen Begründung frei. Das aber ist der Kern des Fanatismus. Wie lässt sich das Gute des Glaubens vor dem Schrecklichen bewahren? Vielleicht verläuft die Scheidelinie zwischen dem, was wir ermutigen, und dem, wovor wir uns hüten müssen, zwischen Glaube und Religion. Glauben ist ein individueller Prozess, ohne Zweifel kaum vorstellbar. Religion aber gibt den Glauben als Wahrheitsgewissheit aus und erhebt Anspruch auf mehr. Religion meint Gruppe, Hierarchie, Anhängerschaft, und sie birgt in ihrem Wahrheitsanspruch und in der Abgrenzung, ohne die sie nicht existierte, ihr Gefahrenpotenzial. Müssen wir also zwischen Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit unterscheiden – und die eine bejahen, die andere begrenzen? Muss der Glaube von der Religion befreit werden? Eine Schlussfolgerung könnte lauten: Die Glaubensfreiheit gilt uneingeschränkt.
Auf (staatlich geschützte) Religionsfreiheit hingegen hat eine Gemeinschaft nur einen Anspruch, solange sie nicht mit dem Verweis auf diese die Freiheit anderer einschränkt. Zumindest darf die Freiheit von der Religion nicht geringer stehen als die Freiheit zu ihr. In Zeiten des Kalten Kriegs gab es viele Versuche, die Vertreter der Religionen der Welt zu einem gemeinsamen Friedensengagement zu bewegen und damit die Welt vor der Katastrophe zu bewahren. Heute wäre man schon zufrieden, wenn es den Religionsführern gelänge, ihre eigene oder ihre vermeintliche Anhängerschaft von ihrem mörderischen Treiben abzuhalten.